Société du Chemin de Fer de Zarsko-Selo
(Zarskoje Selo-Eisenbahngesellschaft)
Aktie über 60 Rubel
St. Petersburg, 31.12.1853
angeboten in meiner 45. Auktion am 8. Oktober 2010 zum Startpreis von 9.000 Euro, zugeschlagen mit 22.000 Euro
Sehr dekorative Vignette mit Darstellung einer Uraltbahn. Zweisprachig russisch/französsich. Mehrere Originalsignaturen. Eingetragen auf das Privatbankhaus „Frères Niedlich“. Das jüdische „Bank- und Wechselgeschäft Gebrüder Niedlich“ in Berlin wurde gegründet nach 1800 von dem Banquier Jtzig Niedlich in Breslau. In der Gründerzeit Umzug nach Berlin, Anschrift: Unter den Linden 65 (heute Sitz der russischen Botschaft in Berlin). 1871 gehörte das nun in Berlin ansässige Bankhaus Gebrüder Niedlich zu den Gründern der bedeutenden „Norddeutsche Gummi· und Guttaperchawaaren-Fabrik, vormals Fonrobert & Reimann, Actien·Gesellschaft“ (1923 umbenannt in „Nordgummiwerke AG“, Berlin).
Äußerst seltene Aktie der allerersten Eisenbahn in Russland, gefunden Ende 2008 in sechs Exemplaren im Nachlaß eines belgischen Textilfabrikanten. Die Aktien der Zarskoje Selo Eisenbahn dürften spätestens 1904 – nach Verschmelzung der Bahn auf die Moskau-Windau-Rybinsk Eisenbahn – eingezogen, entschädigt und vernichtet werden.
Museale Rarität.
Die Zarskoje Selo-Bahn war die erste Eisenbahnstrecke Russlands und die vierte auf dem europäischen Kontinent. Die Strecke verband Sankt Petersburg mit Zarskoje Selo, wo sich die Sommerresidenz des russischen Zaren befand. Der Wiener Professor Franz Anton von Gerstner (1796-1840), Erbauer der Donau-Moldau-Eisenbahn hatte 1834 eine beschwerliche Russlandreise in die Bergwerksregionen des Ural unternommen, um sich mit dem dortigen Stand der Technik bekannt zu machen. Auf seiner Rückreise über St. Petersburg berichtete er dem Zaren Nikolai I und machte ihm zugleich den Vorschlag, in Russland ein Netz von Eisenbahnen zu bauen. Als erste Strecken schlug Gerstner eine erste Schienenverbindung zwischen Moskau und St. Petersburg vor sowie eine zweite zwischen Moskau und Nizhny Novgorod. Dem Zaren leuchtete sehr wohl der Nutzen dieses neuen Transportmittels ein, ganz besonders für die schnelle Beförderung seiner Soldaten im Falle eines Krieges. Trotzdem reagierte er zögerlich und entschied, ein spezielles Komitee zur Entscheidung dieser Frage zu bilden. Dieses Komitee kam zu dem Schluss, dass man zuerst nur eine Probestrecke einrichten und erproben sollte. Der Bau weiterer Eisenbahnen sollte nach dem Willen des Komitees „nicht früher entschieden werden als bis zur Beendigung der Bahn und bis zur Ermittelung aufgrund der Erfahrung der Nutzens solcher Bahnen für den Staat, das Publikum und die Aktionäre bestätigt gefunden wird“. Als Trasse wurde vom Kaiserlichen Komitee die 25 km lange Strecke zwischen St. Petersburg und der Sommerresidenz des Zaren, in Zarskoe Selo, und von da aus noch etwas weiter bis in die Siedlung Pawlowsk ausgewählt. Graf Gerstner, der auf diese Weise das Privileg für die erste russischen Eisenbahnlinie erhielt, fand innerhalb von 6 Monaten und 6 Tagen genügend investitionswillige und – fähige Aktionäre und sammelte so die für den Bau erforderlichen 3,5 Millionen Rubel (17.500 Aktien à 200 Rubel) ein. Hauptaktionäre außer Gerstner waren Hofzeremonienmeister Graf Alexej Bobrinski, die Kaufleute Benedikt Kramer und Iwan Konrad Pliet. Als erster Vorstandsvorsitzender der Aktiengesellschaft wurde Graf Alexej Bobrinski bestimmt. Am 15.4.1836 gab Zar Nikolai I die Baugenehmigung für die Eisenbahn und ab dem 1.5.1836 begannen die ersten Arbeiten. Während der Bauzeit schufteten 1800 Arbeiter und zusätzliche 1800 Soldaten mit Hacke und Schaufel unter der Aufsicht von 17 Ingenieuren und 30 Vorarbeitern am Bau des Bahndamms. Die Satzung der Aktiengesellschaft war zuerst nur vorläufig bestätigt, da zur selben Zeit an einem ersten Gesetz über die Aktiengesellschaften gearbeitet wurde. Dadurch erfolgte die allerhöchste Bestätigung der AG erst zum 12.8.1837. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten Aktien, die dem hier angebotenen Zertifikat vorangingen, ausgegeben. Die Ausrüstungen, angefangen von den Schienen, dem Befestigungsmaterial, den Waggons und den Lokomotiven wurden in Westeuropa bestellt. Das eingesammelte Geld ging sehr schnell zu Neige. Damit der Bau zügig fortgesetzt werden konnte, wurde für den 19.08.1837 eine erste Vollversammlung der Aktionäre einberufen. Diese gab die Genehmigung einen Kredit von 1,5 Millionen Rubel von der Regierung zu erbitten, und die Regierung entsprach dieser Bitte und stellte den Kredit zur Verfügung. Aus den Abstimmungsergebnissen der Vollversammlung ergibt sich, dass die Gesellschaft um die 100 Aktionäre gehabt haben muss, darunter 85 Ausländer. Es waren insgesamt 183 Stimmen gezählt worden, wobei in den Statuten der Gesellschaft vorgesehen war, dass Aktionäre, die 10 Aktien hatten, eine Stimme hatten, diejenigen, die 50 Aktien besaßen, hatten 2 Stimmen, und alle die, die 100 und mehr Aktien ihr Eigen nannten, bekamen 3 Stimmen. Die erste inoffizielle Eröffnung der Bahn fand am 29.9.1836 statt. Man muss aber dabei sagen, dass zu dieser Eröffnung noch nicht die ganzer Strecke fertig war, sondern nur der ca. 3 km lange Abschnitt zwischen dem Zarenresidenz und der Siedlung Pawlowsk, und, weil die Lokomotiven auch noch nicht da waren, spannte man Pferde vor die Waggons. Die zweite „richtige“ Eröffnung über die gesamte Strecke mit Dampflokomotive und unter Anwesenheit aller Minister und des Diplomatischen Corps wurde am 30.10.1837 gefeiert. Die zweite Vollversammlung der Aktionäre fand am 10.5.1838 statt. Diese wählte den Ingenieur Fassmann zum Generalbevollmächtigten der Gesellschaft für die Aufsicht über den Betrieb und den Unterhalt der Bahn. Gerstner hatte nämlich in der Zwischenzeit Russland verlassen. Zweimal hatte er in der Zwischenzeit noch versucht, die Bahn von seinen Mitaktionären abzukaufen, aber diese wollten ihre Aktionärsrechte nicht hergeben. Die Bahn war nämlich von Anfang an gewinnbringend. Die Passagierzahl von geschätzten 800.000 Personen wurde im ersten Jahr fast haargenau erreicht. Die erste Dividende konnte 4% und die Dividende des zweiten Jahres schon 7% betragen. Das war auch Gerstner zu verdanken, denn er hatte auch von Anfang an über den eigentlichen Bahnbau hinaus vorgesorgt. Er organisierte am Zielbahnhof Pawlowsk eine Konzerthalle, die zu vielfältigen Veranstaltungen einlud, so dass allein dadurch auf Dauer eine große Zahl an kulturbeflissenen St. Petersburger Bürgern zur Benutzung der Eisenbahn gewonnen werden konnte. Ingenieur Fassmann kam jedoch nach kurzer Zeit bei einem Betriebsunfall der Bahn ums Leben und danach wurde entschieden, nicht mehr einen zivilen Ingenieur zu nehmen, sondern einen Stabsoffizier. Generaladjudant A. H. Benkendorf, bis dahin Leiter der 3. Gendarmenabteilung Seiner Majestät, wurde für die technische Leitung der Bahn freigestellt. 1852 wurde die Satzung der Zarskoje Selo Eisenbahn geändert und vom Zaren allerhöchst bewilligt. Die Führungsstruktur der Gesellschaft wurde neu geregelt. Vier Direktoren, statt vorher fünf sollten die Gesellschaft leiten. Sie wurden von den Aktionären gewählt. Jeder der Direktoren mußte mindestens 50 Aktien besitzen. Das Kapital betrug nunmehr 17.500 Aktien je 60 Silber-Rubel entsprechend 1.050.000 Rubel. Mit dieser Kapitaländerung wurde die hier angebotene Aktie ausgegeben. Welche Umstände zu einer Kapitalherabsetzung von 3.500.000 Rubel auf 1.050.000 führten, ist noch näher zu erforschen. Am 20.11.1899 genehmigte Zar Nikolai II die Eingabe der Moskau-Windau-Rybinsk Eisenbahn, zur Übernahme der Zarskoje Selo Eisenbahn. Unter der Führung der Moskau-Windau Rybinsk Eisenbahn wurde die ursprüngliche Strecke ab Pawlows verlängert über die Städte Dno, Novosokolniki bis Vitebsk. Mit Eröffnung dieser verlängerten Strecke hörte gemäß Erlaß der Moskau-Windau-Rybinsk Eisenbahn vom 1.5.1904 die Zarskoe Selo Eisenbahn offiziell auf zu exisistieren.